Ghosts of Capital City
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blossoming
Gelöschter Benutzer
Ghosts of Capital City
von blossoming am 20.10.2021 18:18Als ich den ursprünglichen Blogeintrag zu dieser kleinen ´´Idee´´ verfasst und hochgeladen habe, war ich mir unsicher, ob ich versuchen sollte, daraus ein Rollenspiel zu machen, oder ihre Geschichte lieber alleine erzählen würde - ich habe mich für Letzteres entschieden, und da ich weiterhin kleine Schnipsel hochladen möchte und mich jedes Mal nur schlecht fühlen würde, wenn eure Blogeinträge deswegen untergehen, werde ich sie hier hochladen. Vielleicht mag sie sich ja jemand durchlesen.
Kommentare sind willkommen, genau wie im Blog! ♥ Ich vermisse die Kommentarfunktion jetzt schon. x)
blossoming
Gelöschter Benutzer
Ghosts of Capital City
von blossoming am 20.10.2021 18:31´´Du bist ein Arschloch´´, säuselte sie.
Das Universum hatte ihr abermals überraschend einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet - oder so nannte sie es immerhin, wenn ihr Leben binnen weniger Tage aus den Fugen geriet und eine Unbequemlichkeit die nächste jagte. Nicht etwa deshalb hinterließen ihre Schuhe jedoch nasse Abdrücke auf den hellen Fliesenboden des benachbarten Drogeriemarktes - im Leben der jungen Studentin regnete es gerade nicht nur metaphorisch.
Schnellen Schrittes und ohne der Ware in den Regalen Beachtung zu schenken, steuerte sie das Regal mit den Hygieneartikeln an und blieb schließlich davor stehen, strich ihr kinnlanges, tropfend nasses dunkles Haar hinter die Ohren und richtete aus Gewohnheit ihre Schutzmaske. Die Leuchtstoffröhre über ihrem Kopf flackerte. Im Hintergrund lief leise Musik, ein Liebeslied.
Wie so oft hatte sie nicht daran gedacht, rechtzeitig Tampons zu kaufen, und stellte jetzt auch noch fest, dass sie gerade nur größere Boxen im Angebot hatten. Das ärgerte sie, weil sie wirklich knapp bei Kasse war. Ihr Arbeitgeber war mit der Lohnzahlung zeitlich in Verzug geraten und neben der - für ihre Verhältnisse - zu hohen Miete ihres Zimmers, den Studiengebühren, die zweimal im Jahr anfielen, und allen weiteren Lebenserhaltungskosten, waren kürzlich auch noch Ausgaben für Lernmaterialien, ihre Monatskarte, Schuhe für den Winter und ein neues Ladekabel für ihren alten Laptop angefallen. Alles auf einmal. An und für sich hatte sie ja noch genug Geld für die größere Box, nur könnte sie sich davon stattdessen zehn Packungen Instantnudeln kaufen und sich eine Weile davon ´´ernähren´´.
Die schmale Frau sah sich um. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie etwas mitgehen ließ, deshalb kam ihr die Idee überhaupt. Sie stahl nicht oft und vor allem stahl sie nicht gern, aber manchmal... - wer konnte schon sagen, wann sie ihr Geld bekommen würde und ob sie ihren Job nicht bald ganz verlieren würde? Sie fluchte leise und rieb sich müde und frustriert die Augen. Dann sah sie sich noch einmal um und ließ ohne lange nachzudenken eine Verpackung unter ihre weite, braun-orangene Jacke verschwinden, atmete tief durch, peilte ruhig den Ausgang an, bemerkte allerdings recht zügig, dass ein Mitarbeiter sich offensichtlich an ihre Fersen geheftet hatte.
Das Blut gefror in ihren Adern, aber sie wusste, was in dieser beschissenen Situation zu tun war. Da sie nichts kaufen würde, musste sie die Box schnellstens wieder loswerden, sie irgendwo abstellen. Auf einem Regal, in den Einkaufswagen oder -korb eines anderen Kunden - irgendwo. Der Mitarbeiter verringerte den Abstand zwischen ihnen, also legte sie einen Zahn zu, bog am Ende des Ganges um die Ecke und packte die erstbeste Gelegenheit beim Schopf.
Eine Tasche - ein großer schwarzer Shopper - war gedankenlos auf den Boden liegen gelassen worden und eine kleinere, junge Frau, deren Aufmerksamkeit den Kosmetika galt, stand im Gang. Sie hatte sich einige Schritte von ihrer Tasche entfernt.
Der Mitarbeiter rannte jetzt. Sie hörte seine Schritte lauter werden und ohne zweimal darüber nachzudenken, ließ sie die Verpackung in letzter Sekunde in die Tasche der fremden Frau fallen, bevor der Mann um die Ecke stürmte.
``Hey! Du da! Stehen bleiben! Maske runter!´´, rief er ihr verärgert nach, da stand sie schon vor der offen automatischen Schiebetür. Ihr Puls raste. Sie trat jedoch nicht hinaus und nahm die Maske ab. Die kalte Nachtluft streifte ihre glühenden Wangen. Es roch nach Regen.
Der Mitarbeiter durchsuchte ihre Jacke und fand nichts.
• Am nächsten Morgen. •
Sie saß mit überschlagenen Beinen im hintersten Teil des Vorlesungssaals ihrer Universität und sah abwesend den Reihen dabei zu, wie sie sich an diesem frostigen Novembermorgen allmählich füllten. Es hatte wieder geregnet, aber ihr Haar war schon so gut wie trocken. Hmpf, wenn sie bloß wüsste, wo sie ihren Regenschirm vergessen hatte... Sie schnaufte und stützte den Kopf auf die Hände, schloss ihre müden Augen und es fühlte sich an, als würde sie tief fallen. Schuldgefühle hatten sie die halbe Nacht wachgehalten und sie erinnerte sich nicht, wann ihre Zunge das letzte Mal einen Tropfen Kaffee geschmeckt hatte... - Plötzlich stellte jemand etwas auf ihren Tisch. Das dumpfe Geräusch, begleitet von einem lauten Rascheln, erschreckte sie. Sie riss die Augen auf und ihr Blick landete auf der Tamponverpackung, die sie am Vortag beinahe gestohlen hätte.
´´Du hast gestern etwas verloren´´, sagte dazu die junge Frau mit klarer Stimme, die sich in die Reihe vor sie gesetzt hatte.
Sie erkannte ihre Kommilitonin - jetzt, nur kannten sie einander höchstens vom Sehen.
Ihr schoss die Röte ins Gesicht. Sie nahm die Box rücksichtslos an sich und versteckte sie in ihrem Schoß vor den Augen ihrer neugierigen Kommilitonen, war baff. Ihre kleine Kommilitonin kniete auf ihrem Hörsaalstuhl nieder und drehte sich jetzt ganz zu ihr um, kam ihr lächelnd näher. ´´War es dein erstes Mal?´´, fragte sie dann ganz leise.
Sie antwortete nicht. Ihre Lippen waren wie versiegelt.
´´Ich rede von deiner hübschen Jacke. Das nächste Mal würde ich an deiner Stelle etwas weniger Auffälliges anziehen. Dich erkennt man ja mit geschlossenen Augen.´´ Ihre Kommilitonin scherzte mit ihr. - Warum?
Sekunden vergingen, in denen sie einander bloß schweigend in die Augen sahen. Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Sie verstand nicht, was ihre Kommilitonin jetzt von ihr wollte. Wollte sie sie bloßstellen? Anzeigen? Eine Entschuldigung hören? Sie sah aus, als erwarte sie eine Antwort, keine Entschuldigung. Sollte sie ihr für den Tipp danken? Sagen, dass sie eine einzige Jacke besaß? Versichern, dass sie nicht wieder erwischt werden würde? Was wollte ihr merkwürdiges Gegenüber hören?
´´Was?´´, fragte sie schließlich leise. Ihre Stimme war noch rau. Sie hatte heute nichts getrunken und noch kein Wort gesprochen.
Ihre Kommilitonin lehnte sich mit einem sanften Seufzen kurz zurück und legte den Kopf für einige Sekunden schief, dann legte sie die Handflächen flach auf ihre Oberschenkel und kam ihr wieder näher.
´´Du bist ein Arschloch´´, säuselte sie vergnügt, verspielt, herausfordernd und schien sich jeden Millimeter ihres Gesichts ganz genau einzuprägen.
blossoming
Gelöschter Benutzer
Ghosts of Capital City
von blossoming am 20.10.2021 18:43´´Darf ich?´´ Ihre Kommilitonin streckte ihr Kinn in Richtung des freien Tisches zu ihrer Rechten. ´´Oder kommt noch jemand?´´
Niemand würde kommen. Sie schüttelte wie verhext den Kopf und dachte erst dann über ihre Frage nach – wollte sie sich jetzt allen Ernstes neben sie setzen und neunzig Minuten dort bleiben? Warum sollte sie das tun? Die Verwirrung schlug ihr buchstäblich auf den Magen – sie war ums Verrecken nicht damit einverstanden. Das alles war ja wohl ein schlechter Scherz! Ein komischer Traum. Eine Verbildlichung ihrer Schuldgefühle. Die Studentin kniff die Augen zu. Sie konnte aus Träumen willentlich aufwachen.
´´Bist du müde?´´ – sie war noch da. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihre Kommilitonin, wie sie den Hörsaalstuhl ausklappte, ihre Tasche achtlos unter den kleinen abklappbaren Tisch warf und sich setzte. Der süße Odeur ihres Parfums füllte ihre Lungen, vertrug sich nicht mit ihrem leeren Magen.
´´Willst du die nicht langsam einpacken?´´, fragte ihre Kommilitonin als nächstes und erst da merkte sie, dass sie die Verpackung immer noch in den Händen hielt. Sie packte sie sofort in ihren schwarzen Rucksack.
´´Wie heißt du?´´, wollte ihre ´´Gesprächs´´-Partnerin dann wissen. Eine Hand stützte ihre Wange. Ihr glänzendes langes Haar fiel wie ein Wasserfall über ihre Schultern. Da sie nicht antwortete, stellte sie sich anschließend zuerst vor. ´´Ich heiße Hyunjoo.´´
´´Was willst du eigentlich von mir?´´, fragte sie scharf ohne ihre Kommilitonin – Hyunjoo – anzusehen. Sie hatte von der ersten Sekunde an gespürt, wie Frustration und Verärgerung in ihr aufstiegen und diese Gefühle kamen nun schleichend zum Vorschein. Komisch, da Hyunjoo diejenige war, die das Recht hatte, sauer zu sein. So viel war ihr bewusst.
´´Ich will deinen Namen wissen´´, antwortete sie unverändert vergnügt.
´´Wieso?´´
´´Sag nicht, dass du noch nie eine Unterhaltung geführt hast´´, antwortete Hyunjoo. Eine Komikerin. Die Studentin reagierte sichtlich irritiert, sagte jedoch nichts und da Hyunjoo inzwischen begriffen zu haben schien, dass wenn innerhalb von zwei Sekunden kein Wort über ihre Lippen kam, es auch nicht nach fünf, acht oder zehn Sekunden dazu kommen würde, sprach sie weiter. ´´Ich habe dir einen Gefallen getan und jetzt schuldest du mir auch was.´´
´´Du hast mir keinen Gefallen getan.´´
´´Ich finde schon. Wenn ich nicht auch im Laden gewesen wä–´´
´´Hätte ich andere Lösung gefunden´´, sie ließ Hyunjoo ihren Satz nicht zu Ende sprechen.
Hyunjoo schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. ´´Du…´´, dazu drückte sie den Zeigefinger ihrer linken Hand in ihren Oberarm, ´´hättest mit den Bullen Bekanntschaft gemacht´´, sagte sie viel leiser, damit niemand sonst es hören konnte. Immerhin. ´´Oder kennt ihr euch schon?´´
Im Auditorium war ihr immer hundekalt gewesen, aber heute war ihr unbeschreiblich warm. Hyunjoo wollte sie also in der Öffentlichkeit provozieren. War das ihre Art, sich an ihr zu rächen? Sie würde es überstehen.
Ihre Kommilitonin fuhr mit funkelnden Augen und breit grinsend fort. ´´Bei der Beute wäre es bestimmt ein interessantes – und hoffentlich nicht allzu langes – Treffen geworden, wenn du verstehst was ich meine. Die Uhr tickt.´´ Hyunjoos Stimme geriet immer wieder ins Stolpern, wenn ihr ein kleines, sanftes Lachen entfloh, das sie zwanghaft zu unterdrücken versuchte. ´´Glaubst du, sie hätten dir erlaubt, einen zu neh–´´ Und dann verstummte sie mit einem Mal, schien von einer Sekunde auf die andere wie ausgewechselt. ´´Eigentlich ist das ja gar nicht lustig´´, sagte sie ernst und lehnte sich seufzend zurück.
Was war gerade passiert? Sie verstand nichts mehr. War sie sich wirklich sicher, dass sie nicht träumte?
Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Hatte Hyunjoo einfach nicht die Reaktion bekommen, auf die sie gehofft hatte, oder hatte sie erkannt, wie taktlos es möglicherweise war, sich – im Hörsaal – über jemanden lustig zu machen, der Hygieneartikel stehlen musste? – Wobei Hyunjoo die letzte Person war, von der sie Teilnahme und Verständnis erwartete. Schließlich war sie es, die rücksichtslos gehandelt und ohne zu zögern in Kauf genommen hatte, dass ihre unschuldige Kommilitonin wegen Ladendiebstahl angezeigt wurde, um selbst glimpflich aus der Nummer herauszukommen. Wer so widerlich und feige war, verdiente es, so behandelt zu werden, aber es war trotzdem verletzend.
Minuten vergingen, in denen sie nichts sagten, das Stimmengewirr wurde nach und nach lauter und die Vorlesung würde in weniger als einer Viertelstunde beginnen. Es war nicht der ideale Ort für dieses Gespräch, aber sie hatte sich noch nicht bei Hyunjoo entschuldigt und es war sehr wahrscheinlich, dass sie sich deswegen so verhielt. Sie hatte ihr aber auch keine Gelegenheit dazu gelassen... Wie dem auch sei – wenn sie jetzt alles sagten, könnten sie einander und den Zwischenfall nach der Vorlesung hoffentlich wieder vergessen.
´´Es tut mir ja leid´´, entschuldigte sie sich leise, nachdem sie einen Moment mit sich selbst gerungen hatte. Sie mochte im Augenblick vielleicht wütend auf ihre exzentrische Kommilitonin sein, aber der Vorfall tat ihr wirklich leid. ´´Ich verstehe, dass du sauer bist. Das war echt scheiße von mir, aber ich kann es nicht rückgängig machen, egal was du jetzt sagst.´´
Hyunjoo, die gerade gedankenverloren die Beleuchtung an der hohen Decke betrachtet hatte, senkte nun den Blick und schürzte nachdenklich die Lippen. Schließlich zuckte sie leicht mit den Schultern. ´´Ich bin dir nicht böse´´, sagte sie – warum dann das ganze Theater? ´´Und eigentlich hat das Ganze ja auch etwas Lustiges. Ich habe noch nie jemanden auf diese Weise kennengelernt.´´
Alles ergab keinen Sinn. Hyunjoo ergab keinen Sinn.
´´Außerdem schuldest du mir jetzt was´´, fügte sie noch hinzu und da war es wieder, das Funkeln in ihren dunklen Augen. Dann nahm sie ihre Tasche auf den Schoß und fing an, darin zu kramen.
Was für ein merkwürdiger Mensch.
´´Aber fürs Erste kannst du mir deine Augen leihen´´, sagte sie.
´´Bitte?´´
´´Ich habe meine Brille zu Hause vergessen´´, erklärte Hyunjoo.
´´Weiter vorne sind noch Plätze frei.´´ – Darauf rollte ihre Kommilitonin nur mit den Augen.
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